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Überraschung! Oder: Wenn was anderes weh tut.

Man hat sich über die Monate und Jahre an sein Gebrechen gewöhnt, sich damit abgefunden. Aber dann schmerzt plötzlich ein Gelenk, das bisher tadellos seinen Dienst getan hat. Die erste Reaktion dürfte Rheumabetroffenen nicht unbekannt sein: Panik.

Run on the Seamen’s Savings’ Bank during the Panic of 1857. Harper’s Weekly vol. I, p.692. Library of Congress, gemeinfrei.

Run on the Seamen’s Savings’ Bank during the Panic of 1857. Harper’s Weekly vol. I, p.692. Library of Congress, gemeinfrei.

Die psychische Komponente spielt eine große Rolle bei Schmerzerkrankungen. Es geht weniger darum, ob eine positive Einstellung hilft, die Erkrankung im Zaum zu halten (das tut sie in der Regel nicht), als wie man mit neuen Schmerzherden umgeht. Denn so ein Schmerzschub in einer Körperregion, die sich bisher unauffällig verhalten hat, kann einem den ganzen Tag versauen. Das wirkt auf Dritte oft übertrieben.

Dabei sind solche Bedenken verständlich: Schmerz, einfach so und ohne bekannte Ursache? Das finden nicht einmal die herbsten Masochisten toll. Hinter vielen rheumatischen Leiden stehen Ursachen mit mehr oder weniger dramatischen Bezeichnungen, von «Autoimmunerkrankung» bis «Krebs». Und nicht zuletzt wissen Betroffene, wie schlimm Schmerz werden kann. Logisch geht das Kopfkino los, wenn völlig überraschend ein Kniegelenk schmerzt, obwohl man damit noch nie Probleme hatte.

Wie damit umgehen? Gelassenheit liegt nicht jedem, aber dennoch sollte Douglas Adams bekanntes Bonmot gelten: Don’t Panic. Gibt es vielleicht doch eine klare Ursache? Gestern den Dachstuhl geräumt und dabei auf allen Vieren herumgerutscht? Oder am Abend zuvor mit dem Ellenbogen an den Türrahmen gedonnert? Sport getrieben – könnte also Muskelkater sein? Zu viel GEKNUDELPUPST? – also eventuell bloss eine Zerrung eingefangen? Ursachenfindung sollte Priorität haben, bevor man sich verrückt macht.

Sollte sich der Schmerz aber weder erklären lassen noch in einem angemessenen Zeitrahmen verflüchtigen ist klar: Ab zum Onkel oder zur Tante Doktor. Rheumatische Erkrankungen beschränken sich zwar auch mal auf einzelne Gelenke, aber falls sie sich nicht mit so wenig zufrieden geben – was bei chronischem Verlauf durchaus als Norm gelten kann – muss die Schmerztherapie angepasst werden. Oder die medizinische Ursachenforschung weitergetrieben werden. Und das erledigt man lieber früher als später, wie bereits anderenorts beschrieben …

Von Sekundärschmerzen und Körpergefühl.

Für mich mühsamer als die eigentlichen Rheuma-Schmerzen sind die Begleiterscheinungen. Ich nenne sie Sekundärschmerzen. Auch wenn sie nur auf den ersten Blick weniger heftig sind.

Sekundärschmerzen entstehen als Reaktion darauf, wie man mit dem eigentlichen Schmerzschub umgeht. Egal, wie vollgepumpt mit Medikamenten ich bin, es tut noch immer weh. Also vermeide ich automatisch bestimmte Bewegungen und überlaste so andere Teile meines Körpers. Oder nach ein, zwei Wochen auf Schmerzmitteln meldet sich der Magen mit übertriebener Säureproduktion. Oder das ständige Gehumpel an der Krücke erzeugt Muskelkater. Und so weiter, und so fort.

Bei mir sieht’s glücklicherweise noch recht unproblematisch aus. Zieht sich das aber über Jahrzehnte können die Sekundärschmerzen chronisch und damit zu einem echten Problem werden. Dabei sind sie am Anfang wichtige Warnzeichen. Das Perfide ist die Kombination aus Rheuma und Schmerzmitteln.

  • Hat man noch kein Schmerzmittel genommen oder ist falsch eingestellt überdeckt das Rheuma den Sekundärschmerz. Eine 2 auf der Schmerzskala geht im Lärm der schreienden 7 unter.
  • Ist man sauber eingestellt und/oder im Land der Wattebällchen wird oft auch der Sekundärschmerz so weit gedämpft, dass man ihn nicht mehr ernst nimmt. Das gilt besonders bei Akuttherapie mit Morphinen.

Das Ergebnis ist dasselbe. Der rheumatische Schub verschleiert mit jeder Wiederholung größer werdende Nebenbaustellen. Und wenn man nicht aufpasst werden diese zum Dauerzustand, in dem das Rheuma nur noch einen Gastauftritt hat.

Gefragt ist Körpergefühl. Der vielleicht wichtigste Punkt für Menschen, die sich schon jung mit rheumatischen Erkrankungen herumschlagen dürfen: So schnell wie möglich memorieren, wie sich der Körper ohne Schmerz anfühlt und bewegt. Das hilft auch beim Kampf gegen das Schmerzgedächtnis, dem ich einen eigenen Artikel widmen werde.

Also – bewusst beobachten, wie man sitzt, geht, Taschen trägt, rumsteht, duscht, aus dem Bett steigt, den Stift hält und so weiter. Seitdem ich lernte, wie ich mich im Modus „schmerzfrei“ bewege fällt es mir auch leichter, Fehler während eines Rheuma-Schubs zu erkennen.

Dann innehalten: Weshalb genau stehe ich jetzt schief? Ah, die zusammenschiebbare Krücke ist etwas zu lang ausgezogen und ich strecke das Bein mit dem Scheißfuß aus. Darf nicht sein, sonst habe ich morgen auch noch eine Zerrung im anderen Bein und im Rücken, deren Entstehen von den Schmerzmitteln übertünkt wird.

Ich muss zugeben, dass mir hier neben dem Physiotherapeuten das … Achtung … Wii Balance Board die größte Hilfe war. Ja, ich weiß wie das klingt, aber das ist weder eine Werbeeinblendung noch ein misslungener Witz. Ich bin mir sicher, dass es solche Geräte auch von anderen Herstellern gibt, aber hier steht halt eine Wii rum. Item.

Der Punkt ist: So ein Brett zeigt einem ob man gerade steht, wo der Schwerpunkt liegt. Und mit den ganzen dazu passenden Spielen wurde ich mir bewusster, welche Bewegungen noch „ausbalanciert“ waren und welche nicht. Und wie sich mein Körper dabei in mehr oder weniger lustigen Kontorsionen befand. Das herumhüpfende und ein wenig hysterische Comic-Dingens, das sich Trainer nennt, erweist sich als unerwarteter Motivator. Nur Unmenschen möchten so einen Knuddelpups weinen sehen.

Tänzer_innen können sich solche Investitionen natürlich sparen. Ohne Balance geht da von Haus aus wenig, entsprechend gut sollte auch das Körpergefühl ausgebildet sein.

Das Wissen über den eigenen Normalzustand ist ein unbezahlbarer Vorteil beim Abschätzen, ob man sich zugedröhnt oder schmerzgepeinigt noch weitere Probleme einhandelt. Entsprechend kann ich nur jedem raten: Merkt Euch in guten Zeiten, wie sich euer Körper anfühlt und bewegt. Hat man es einmal gelernt und frischt es regelmäßig auf, dann geht es auch im Tramadol-Rausch nicht verloren.