»Das Monster in der Ampulle«, oder der Elefant im Raum.

Im gestrigen Tages-Anzeiger erzählt Michèle Binswanger von Opiaten, Sucht, einer Betroffenen und deren gerichtlichen Streitfall. Vergisst dabei aber das Kernproblem: Schmerzen tun weh.

Was mir als Schmerzpatient in Binswangers durchaus lesenwerten Artikel fehlt ist eine Betrachtung, in wiefern Schmerz als solcher mit in ein etwaiges vorhandenes Suchtverhalten reinspielt. Man sieht es den beliebtesten Kommentaren an; »Hätte halt die Packungsbeilage lesen sollen« und »Pharmalobby!!!!« etc.. Das lässt sich leicht sagen, zielt aber am einfachen Fakt vorbei – dass es halt so oder so weh tut. Selbst wenn Ärzte und Ärztinnen Analgetika zu leichtfertig verschreiben sollten, sie machen das nicht ohne Grund.

Wenn die anonymisierte Patientin Pethidin bekommen hat, dann sprechen wir von HEFTIGEN Schmerzen. Pethidin ist noch nicht auf Morphin-Niveau, aber es ist keine Substanz, die man ohne wirklich guten Grund verschreiben würde. Für Film-Fans vielleicht als Hinweis – das ist das Zeugs, das in US-Arzt-Serien immer »Demerol« genannt wird. Das bekommt man nicht einfach so, weil man mal ein bisserl Aua hat.

Wie gesagt, Binswangers Artikel ist durchaus lesenswert. Aber mir ist der Effekt des Textes zu polarisierend: Die einen Leser werden den »bösen Ärzten« und der »Pharmalobby« die Schuld zuschieben, die anderen der »unmündigen Frau«, die »selbst Schuld« sei. Ausgeblendet wird dabei der Leidensdruck von Betroffenen. Wenn jemand so starke Schmerzen hat, dass Opioide angezeigt sind, dann haben weder der Arzt noch die Patientin groß eine andere Wahl: der Schmerz muss weg.

Wenn es im Verlauf der Therapie in eine Sucht abgleiten sollte ist das selbstverständlich schlecht, aber wie kann hier im Alltag gegengewirkt werden? Es gibt keine Schmerzmessgeräte, Ärzte können also nur aufgrund der Schilderung der Patienten und eigenen Erfahrungswerten aus der Praxis einschätzen, was angesagt wäre. Das bedingt, dass die Patienten ehrlich sind – was bei jemandem mit einer Suchterkrankung ein ganz klein wenig schwierig wird. Wir haben keine zentralen Apotheken- oder Patienten-Register; woher soll ein Arzt wissen, ob der Patient sich nicht bei drei anderen Ärztinnen mit den Medis eindeckt? Soll er grundsätzlich skeptisch sein, und gegebenenfalls unterversorgte Patienten in Kauf nehmen?

Eine einfache Antwort auf die Frage, wer Schuld an einer solchen Suchtentwicklung hat, gibt es nicht. Es ist für mich fraglich, ob überhaupt eine »Schuld« existiert, oder ob das in die Kategorie »dumm gelaufen« gehört. Ich kenne die im Artikel erwähnte Begründung des Bundesgerichts, das Verfahren abzulehnen, nicht. Aber es würde mich nicht wundern, wenn es in diese Richtung gehen würde.

Kurz: Für einen Artikel über starke Analgetika (das hyperbolische »Monster in der Ampulle«) fehlt mir überraschend viel zum Thema: Schmerzen.

Von Gesundheitskosten und (deren) Folgen.

Ja, ich »darf« alle zwei, drei Jahre ein Leber-Sonogramm über mich ergehen lassen. Und das kostet. Aber kostet es die Krankenkassen mehr, als wenn ich es bleiben lassen und mich schmerztechnisch »zusammenreißen« würde?

Streckbett. Kupferstich, ca.1700. Gemeinfrei.

Streckbett. Kupferstich, ca.1700. Gemeinfrei.

Die Mehrzahl der üblichen Analgetika schlagen sich auf der Leber nieder. Das ist einer der Gründe, weshalb in so ziemlich allen Beipackzetteln etwas steht à la »Alkoholiker nur unter engmaschiger medizinischer Begleitung!!!«, selbst bei rezeptfreien Medikamenten. Wenn man die Aufgaben der Leber versteht, respektive weshalb sich so ein recht hässliches Organ in den Körpern vornehmlich von Säugetieren herangebildet hat, ist das kein Wunder: Das Dingens ist eine Kläranlage gegen Giftstoffe. Wozu aus Sicht des Organismus neben Alkohol eben auch viele Medikamente gehören. So lange wir keine Gentherapien gegen Erkrankungen von Depression über Schizophrenie bis Krebs und eben auch: Schmerzerkrankungen wie Rheuma haben, wird die Leber bei den potenteren Mitteln automatisch zu rackern beginnen. Und je nach Veranlagung und Glück/Pech auch selbst krank werden.

1x Leber-»Screening« kostet in meinem Kanton mehr, als viele Leute meines Alters über ein Jahrzehnt bei der Hausärztin liegen lassen. Ich drücke also die Gesundheitskosten hoch! Obwohl ich das die letzten zwanzig Jahre wie den Rest meiner Behandlungen immer selbst zahlen durfte, da Franchise nicht voll, aber egal: Es kostet! Ist das wirklich nötig?!

Unterm Strich ja. Denn die Ärztinnen und Ärzte haben drei Möglichkeiten:

  1. Ein Auge auf mögliche krankhafte Veränderungen bestimmter Organe zu werfen, um frühzeitig darauf reagieren zu können.
  2. Alleinig aufs Schmerzempfinden der Patienten zu hören und einfach Rezepte zu zeichnen, wenn jemand jammert.
  3. Besagtes Schmerzempfinden mit eigenen beruflichen Erfahrungen abzugleichen und Medikamente unterzudosieren oder gar zu verweigern.

Den zwei letzten Ansätzen gemein ist: zieht sich die Situation hin, kann man fast nur verlieren, auf Niveau »Gesundheitskosten« und noch viel mehr als Betroffener. Wenn Schmerzen psychosomatisch sind, bringt es auf Dauer wenig, wenn man Morphine verschreibt. Sind sie es nicht, bringt es genau so wenig, wenn man die Betroffenen zudröhnt und nicht überwacht, oder wenn man ihr Leiden nach dem Motto »gehen Sie mal auf eine Krebsstation, DA sehen Sie ECHTES Leiden« herunterspielt. Alles Extremfälle natürlich, als Illustration. Die Bandbreite ist, nun ja, breit.

Ironischerweise ist heutzutage die längerfristig kostengünstigste und für Betroffene angenehmere Lösung: Den Patienten auch diagnostisch zu begleiten. Selbst wenn die Überprüfungen mehr kosten als die gesamte Medikation für mehrere Jahre. Aber um bei meinem Beispiel zu bleiben: Schmerzmittel über ein Jahrzehnt incl. alle zwei Jahre Lebertests sind »billiger« als eine Lebertransplantation, weil man die Kosten einer regelmäßigen Kontrolle gescheut hat. Wobei sich hier die Frage stellt: Wer scheut die Kosten?

Es ist ein offenes Geheimnis, dass manchen Parteien im Schweizer Parlament die Gesundheitskosten ein Dorn im Auge sind. Denn wegen etwaigen enormen Aufwendungen, die anfallen könnten, muss das Solidaritätsprinzip greifen. Besagte Lebertransplantation könnte der Durchschnittsschweizer kaum aus der eigenen Tasche zahlen, genau so wenig wie seine eigene spätere Demenzbetreuung, oder nur schon einen stationären Aufenthalt »weil man sicher gehen will«. Im letzten Fall sprechen wir von mehreren Tausend Franken pro zwei, drei Tage. Zahlbar innerhalb von 30 Tagen. Viel Spaß.

Ist das schlimm? Zahlen wir als »Allgemeinheit« zu viel? Werden zu viele Diagnoseschritte vorgenommen, das MRI häufiger angeworfen als absolut nötig? Natürlich. Denn neben etwaigen Kosten haben auch die Patienten Interesse daran. Wenn noch vor ein paar Jahrzehnten für einen möglicherweise verstauchten Fuß ein Paar Künzli-Schuhe und Abwarten gereicht haben, wollen Leute heute ein MRI, um abzuklären, ob da was komplett kaputtgegangen sein könnte. Anders rum werden Gallenblasen minimalinvasiv operiert, damit die Patientin nach zwei, drei Tagen wieder aus dem Krankenhaus entlassen werden kann. Menschen mit Dauerrezepten für Schmerzmittel und Psychopharmaka werden zum Internisten zwecks Leberabklärung geschickt. Und ja, das kostet. Natürlich.

Aber was wäre die Alternative? Geld gespart bei den Abklärungen und angenehmeren Therapien, dafür wird jemand zum Langzeitpflegefall und kostet noch viel mehr? Oder man klappt zusammen und braucht eine neue Leber, obwohl man Antialkoholiker ist? Oder man kann wegen der Rückenschmerzen nicht mehr genug Leistung bringen und verliert den Job? Oder man fängt sich mit der großen Bauchwunde einen so genannten »Krankenhausinfekt« eher ein als wenn teurer minimalinvasiv gearbeitet worden wäre?

… und dann bleibt da noch der Punkt der Lebensqualität der Betroffenen, ganz abseits etwaiger Kosten. Denn darum sollte es beim Gesundheitswesen doch gehen, oder? Die Gesundheit der Betroffenen?

Was ist besser: Jeden Morgen wie Dr. House im Spiegel nachschauen, ob sich schon ein Ikterus unterm Augenlied oder Zahnfleisch versteckt? Oder Zähne zusammenbeißen und die Schmerzen zu ignorieren versuchen, und dabei im Beruf wegen weniger »Leistung« auf der nächsten Abschuss- Reorganisations-Liste eine Top-Position einnehmen?

Oder die möglichen Folgen aktiv im Auge behalten? Und etwaige Folgeerkrankungen so vermeiden versuchen?

Logisch trifft es nicht jeden. Es gibt hundertjährige Kettenraucher genau so wie Menschen, die sich seit Jahrzehnten jeden Morgen ein Aspirin reinpfeifen, ohne an Magengeschwüren zu erkranken. Aber wenn nicht? Dann wird’s nicht nur teuer für das »Gesundheitswesen«. Sondern vor allem unangenehm bis tödlich für die Betroffenen.

Rheuma in jungen Jahren: Eine persönliche Bestandesaufnahme.

Ich werde oft gefragt, wie ich denn mit 38 Jahren rheumatische Arthritis haben könne. »Rheuma, Arthritis, Gicht, das sind Dinge für alte Menschen!« Nein. Vielleicht hilft mein eigenes Beispiel, das Verständnis etwas zu erweitern.

Der Erni im Spanien-Urlaub. Irgendwann in den 80ern.

Der Erni im Spanien-Urlaub. Irgendwann in den 80ern.

Meine Familie ist recht entzündungs- und autoimmun-freudig. Auf der mütterlichen Seite haben bzw. hatten wir multiple Sklerose, »Alters-Rheuma« und Gicht, auf der väterlichen Ekzeme. Das erste Mal persönlich damit konfrontiert wurde ich als Teenager, gerade frisch im eigenartigen Land der Pubertät angekommen. Meine Gelenke knackten, waren oft heiß und schmerzten, besonders Finger und Knie waren betroffen. Meine Mutter brachte mich zum Orthopäden, der tippte auf Wachstumsschub und Hormonumstellung, stutzte aber bei den Bluttests. Die Entzündungswerte waren doch erstaunlich hoch für jemanden, der erst zehn Jahre später sein allererstes alkoholisches Getränk oder Schmerzmittel zu sich nehmen würde. Ich verstand kein Wort, aber damals war mir das auch egal. Denn:

Der Schmerz störte mich nicht einmal so sehr, ich konnte ihn gut ausblenden. Ich dachte: okay, so fühlt sich also ein jugendlicher Körper an. Ein bisserl Kacke, aber nun ja, ist halt so, kann ich ignorieren. Erklärt, weshalb so wenige Erwachsene auf Bäume klettern und im Bus griesgrämig drein gucken.

Der Orthopäde schrieb dann Jahre später zur Aushebung für die Rekrutenschule ein Gutachten. Ich weiß bis heute nicht, was da drin stand. Aber der prüfende Militärarzt hatte das Blatt vor sich, stutzte und blickte den 18jährigen Sascha skeptisch an. »Glauben Sie wirklich, dass SIE Militärdienst leisten können???« – »Kann ich nicht beantworten, habe ich noch nie gemacht.« – »Okay, untauglich.«

Meine 20er waren dann vergleichsweise ruhig. Ich schlug mich mehr mit Rücken und Psyche herum als mit meinen Gelenken. Dass ich zwischendurch schmerzende Finger, steife Knie und dicke Füße hatte fand ich normal, ein Nebenkriegsschauplatz. Kannte ich ja schon ein paar Jahre. Wichtiger waren mir Körperhaltung und gute Bürostühle. »Ich hab Rücken!«, der Spruch könnte auch von mir stammen. Ich wurde mit einer Skoliose geboren und mir war klar, dass ich da aufpassen musste. Der Orthopäde meinte lapidar, dass ich mit 30 ein Stützkorsett brauchen würde.

Dann kamen die 30er. Au Mann. Oder eher, aua Mann.

War nicht schön. Ich wusste nicht, was los war, wunderte mich darüber, dass andere in meinem Alter Joggen und Freeclimbing cool fanden – und das auch machen konnten. Irgendwann merkte ich, dass nicht diese Menschen die Ausnahme von der Regel waren, sondern ich. Das erste Mal beim Rheumatologen war ich mit 32 oder 33.

Es folgten einige Wohnort- und somit Apotheken- und Hausarztwechsel, und immer dieselben Diskussionen, sobald besagte Fachperson das erste Mal ein Blutbild bestellte oder meine Forderung an der Theke entgegen nahm. Nein, mein Gamma-GT war schon mit 12 auf dem Niveau, und damals trank ich noch keinen Alkohol. Nein, meine Leber ist gesund. Ja, das wird periodisch mit einem Sonogramm überprüft. Ja, die Familie ist vorbelastet. Nein, ich nehme keine illegalen Substanzen zu mir. Ja, wenn ich wegen Schmerzen komme tut’s wirklich weh und ist kein Jammern auf hohem Niveau. Ja, ich kenne das Medikament. Nein, rufen Sie meinen Rheumatologen an, wenn Sie mir nicht glauben.

Aber wenigstens nutze ich auch heute noch kein Korsett. Jedenfalls kein medizinisches. Aber ich schweife ab.

Punkt ist: es gibt auch Bivis, die sich mit rheumatischen Erkrankungen herumschlagen dürfen. Nicht nur Uhus. Diese beiden Begriffe habe ich heute von meinem ehemaligen Mathematik-Lehrer geschenkt bekommen: BIs-VIerzig, Unter-HUndert. Und es wäre verdammi nett, wenn die Öffentlichkeit – egal ob auf Niveau Versicherungen, Ärzte, Apotheken oder Mitleser – das wahrnehmen würde. Und akzeptieren? Ja, das wäre dann wirklich … nett.

Umgekehrte Simulanten, oder: Schmerz im Job – und nu?

Heute hätte ein Manuskript überarbeitet werden müssen, aber dann kam der Rheuma-Schub. Wie geht man im Beruf mit Schmerzattacken um? Ich meine: ehrlich und direkt, alles andere ist kontraproduktiv.

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Das Projekt ist toll durchgeplant, mit fixen Deadlines und x Leuten, die auf das Material warten. Man ist ein Rädchen im Gesamten, als Angestellter oft gepaart mit festen Präsenzzeiten. Aber dann meint der Körper, beziehungsweise dessen Entzündungswerte: Party! und man greift zum Tramadol, und grinst ein bisserl, weil die Haare im Gesicht kitzeln und der Schattenwurf an der Wand so unglaublich interessant ist.

Für Schmerzpatienten ist das (hoffentlich) nicht Daily Business, aber ein immer wiederkehrender Besucher. Wie geht man damit um? Das Team wartet; Arbeitgeber, Kunde, Verlag sind auf dich angewiesen! Reiß dich zusammen!

Zusammenreißen geht schlecht: Man kann Funktionieren zwar simulieren, aber weder ist es einer schnellen Rekuperation noch der Teamarbeit förderlich. Entweder leistet man weniger, weil der Schmerz ablenkt, oder man ist breit wegen den Schmerzmitteln. Manchmal auch gleich beides zugleich. Das einzige, was funktioniert, wäre Erholung, Abwarten, Runterfahren. Aber hier stößt man oft auf Unverständnis.

In einer Zeit, in der die Invalidenversicherung der Schweiz Schmerzpatienten »eingliedern« soll – also aus der (Teil-) Rente entlassen muss – und das Bundesgericht auf einen Schlag einen Haufen Schmerz-Leiden als »überwindbar« klassifiziert, ist klar: man muss leisten. Zumindest dann, wenn das Leiden nicht deutlich sichtbar ist. Fehlende Gliedmaßen würden zwar das Misstrauen entschärfen, aber der Griff zur Stichsäge kann’s auch nicht sein.

Es wird immer von »Eigenverantwortung« gesprochen. Dem stimme ich zu und schlage vor: Ja, ergreift diese Eigenverantwortung! Achtet auf Euch! Ihr könnt nix dafür, dass sich die Schmerzskala gerade auf einer 9 einpendelt. Selbst wenn ihr direkt dafür verantwortlich wäret, zum Beispiel weil ihr mit der Stichsäge hantiert habt – und nu? Es tut trotzdem weh und ihr seid trotzdem nur beschränkt arbeitsfähig. Da helfen das beste Make-up und der smarteste Anzug nichts.

Das heißt auch, dass man sich nicht verstellt, sondern klipp und klar sagt – »Geht nicht. Sorry, frag mich in zwei Stunden nochmals, wenn / falls ich wieder klar denken kann.« Es ist niemandem gedient, wenn man zugedröhnt einen Kran führt oder die Aktionärsversammlung leitet: Weder dem Arbeitgeber, noch dem Team, noch den Versicherungen oder gar den Steuerzahlern. Wenn’s nicht geht, geht’s nicht. Und da müssen Betroffene Klartext reden.

Nur wenn Schmerzleute ihre Grenzen akzeptieren und kommunizieren wird auch beim Team, Arbeitgeber, Kunden, Verlag Verständnis oder gar Nachvollziehbarkeit erst ermöglicht. Und das geht nur mit Eigenverantwortung und Offenheit. Wer sich verstellt, seine Leiden verleugnet, mag eine Weile in der Menge untergehen, nicht Weiters auffallen. Stigmatisiert aber damit diejenigen Leute, denen ein solches Untertauchen nicht mehr möglich ist – sie werden ausgegliedert, denn »der Horst aus Abteilung X hat auch Rücken, der stellt sich nicht so an, Du bist doch nur faul«.

Natürlich sind hier auch Politik und Gesellschaft gefragt. Aber wohin diese Reise führt sehen wir täglich in Zeitungsberichten oder, gegebenenfalls, in den Schreiben der Ausgleichskassen und in Abstimmungsergebnissen. Versteckt man sich, wird man nicht wahrgenommen. Und ohne Wahrnehmung wird das Problem auch nicht angegangen – wozu auch? Der Horst auf Abteilung X hat ja auch Rücken …

Ich selbst? Ich habe heute meinem Lektor eine Mail geschickt und die Situation, im Rahmen des mir kognitiv Möglichen, erklärt und eine Verschiebung um ein paar Stunden vorgeschlagen. Kein Problem. Aber ohne diese Offenheit hätte ich entweder den Termin verhauen oder schlechte Ergebnisse geliefert – für mich peinlich, fürs Lektorat ärgerlich. So war uns beiden gedient: Ich konnte noch zwei Stunden über Kreise mit 400° Innenwinkel nachdenken, der Lektor andere Bücher einen Tag vorziehen. Win-win.

Apothekenscharmützel, Teil 2.

Apotheke aus Konrad von Ammenhausen: Schachzabelbuch, Stuttgart, Landesbibl., Cod. poet. et phil. 2° 2. Gemeinfrei.

Apotheke aus Konrad von Ammenhausen: Schachzabelbuch, Stuttgart, Landesbibl., Cod. poet. et phil. 2° 2. Gemeinfrei.

Es kann auch ganz anders laufen – Apothekenmitarbeitende sind manchmal durchaus pragmatisch. Es zeigt sich, dass es an der Persönlichkeit liegt, ob man einen Dealer oder Patienten vor sich stehen sieht. Und eventuell auch daran, wo genau man arbeitet.

Vor geraumer Zeit berichtete ich über meine eher negativen Erfahrungen mit Apothekenverkäufer_innen. Ich glaube, es ist an der Zeit, eine Lanze zu brechen für die konstruktiven, hilfsbereiten und freundlichen Mitarbeitenden, die sich ebenfalls in diesem Geschäftsfeld bewegen. Wenn auch vorwiegend in inhabergeführten Apotheken, nicht Ladenketten – aber ich schweife ab.

Ja, es gibt sie: Die Menschen, die ihren Job ernst nehmen und sich auf den Kunden einstellen. Die Betroffene nicht unter den Generalverdacht des Medikamentenmissbrauchs stellen, nur weil sie sich wiederholt rezeptfreie Medikamente kaufen – oder alternativ versuchen, »Alternativen« für ein Heidengeld an leidende Kunden zu verscherbeln. Menschen, die sogar noch nachfragen. Die letzten Wochen gehört, von verschiedenen Mitarbeitenden in verschiedenen Apotheken:

»Kennen Sie Produkt XY? Ist derselbe Wirkstoff, den sie jetzt nehmen, aber so bekömmlicher für die Magenschleimhaut.«

»Ihr Gehstock scheint mir ein wenig zu lang zu sein. Haben Sie fünf Minuten Zeit? Dann passe ich den gerne frisch an.«

»Ah, Sie kennen das Medikament. Gut! Haben Sie auch einen Protonenpumpenhemmer als Magenschutz? Viele Ärzte vergessen das leider immer wieder.«

… und so weiter, und so fort.

Ja, es gibt sie, die aufmerksamen Apotheken-Leute. Diejenigen, die eine Situation einschätzen können – und wenn nicht, dann eben: nachfragen. Und nein, diese Erlebnisse sind nicht von Verkaufszwang geprägt; die Stockkürzerei zum Beispiel (die übrigens sehr gelegen kam) geschah kostenlos. Kundenbindung scheint solchen Apotheker_innen wichtiger als die abgesetzten »Anti-Rheuma-Kapseln (garantiert natürlich)«, die mir andere schon so oft andrehen wollten. Zu oft.

Also breche ich eine Lanze. Und wenn ich mir die Situationen nochmals ins Gedächtnis rufe, dann muss ich mich korrigieren: Es ist nicht nur eine Lanze für vernünftige Menschen. Es ist auch durchaus eine Lanze für Apotheken, die sich der Kettenbildung verweigern konnten, die Wert auf längerfristige Kundenverhältnisse und stabile Mitarbeiterverträge legen. Unternehmer und Unternehmerinnen, die verstanden haben: In Zeiten von Internet-Versand und Grenzgänger-Shopping verkauft eine Apotheke keine Präparate. Sondern eine durchaus geschätzte Dienstleistung.

Super Size Pain, oder: Arthritische Beschwerden und Übergewicht.

Wir wissen nicht erst seit «Super Size Me», dass das Gewicht arthritische Schübe auslösen oder gar zu rheumatischen Erkrankung führen kann. Karrikaturen gichtiger Dickbäuche gibt’s seit Jahrhunderten. Aber was tun?

Szene aus Morgan Spurlocks «Super Size Me». USA, Roadside Attractions, 2004.

Szene aus Morgan Spurlocks «Super Size Me». USA, Roadside Attractions, 2004.

Mein «Fall» dürfte exemplarisch sein: 2010 hatte ich den ersten Thurgauer Gichtschub und wurde bei meinem neuen Hausarzt vorstellig. Für ihn war klar: Sie sind zu dick, da kann so etwas schon mal vorkommen. Auch in jungen Jahren.

Er revidierte seine These später, als er erfuhr, dass ich mich schon als Jugendlicher mit Idealgewicht damit herumschlagen durfte. Aber ganz unrecht hatte er nicht: Ist man zu dick, dann hat die Leber mehr zu arbeiten, Entzündungswerte steigen, die Nieren ackern auch anständig rum – und schon schlägt man sich mit Arthritis oder eben Gichtschüben herum. Bei mir mag das damalige Übergewicht nicht Ursache für meine rheumatische Grunderkrankung gewesen sein, aber Schmerzschübe hat es dennoch begünstigt.

Es mussten also Kilos runter. Aber wie, mit, haha, dick geschwollenem Fuss? Ausdauersport ist so schwer möglich. Auch, weil bei Flüssigkeitsverlust – Schwitzen – das Risiko eines arthritischen Schubs ebenfalls hochschnellt. Der Arzt riet mir dann zu Oberkörper-Gymnastik, was meinem krummen Rücken auch zu gute kommen würde. Später, nach dem Gichtschub, sollte ich mich einfach mehr bewegen, weniger essen und reichlich Wasser trinken.

Mein Sport wurde das Gehen – ich latschte lieber eine Stunde in den Nachbarort als den Bus zu nehmen. Mindestens viermal in der Woche waren solche Märsche nötig. Wir wanderten viel, besonders auf dem Thurweg. Selbst auf Städtereisen kamen die Wanderschuhe mit. Es machte sich bezahlt; nach zwei Jahren war ich wieder im normalgewichtigen Bereich. Aber: Zwei Jahre! Und wenn ich meine maximale Ausdehnung als Nullpunkt des Projekts «Abnehmen» festlege hat es gar fünf Jahre gedauert, bis ich wieder in Form war.

Der einzige Rat, den ich rheumatischen Abnehmewilligen geben kann ist also dieser: Geduld haben, nicht aufgeben. Will man zu schnell zu viel erreichen steigt das Risiko auf zusätzliche Schmerzschübe. Dann geht ein, zwei Wochen gar nichts, im wahrsten Sinne des Wortes, und Motivation und Routine lassen nach. Ein bisschen Übergewicht ist auch nicht weiters schlimm, also nicht verrückt machen lassen.

Aber 20, 30 Kilogramm zu viel auf den Hüften? Und die Veranlagung zu arthritischen Erkrankungen im Genmaterial? Dann ist es im eigenen Interesse, dass man sein Gewicht in den Griff bekommt. Auch wenn es Jahre dauern sollte, bis es passt, und einem bereits die Wechseljahre oder Midlife-Crisis zuwinken.

Überraschung! Oder: Wenn was anderes weh tut.

Man hat sich über die Monate und Jahre an sein Gebrechen gewöhnt, sich damit abgefunden. Aber dann schmerzt plötzlich ein Gelenk, das bisher tadellos seinen Dienst getan hat. Die erste Reaktion dürfte Rheumabetroffenen nicht unbekannt sein: Panik.

Run on the Seamen’s Savings’ Bank during the Panic of 1857. Harper’s Weekly vol. I, p.692. Library of Congress, gemeinfrei.

Run on the Seamen’s Savings’ Bank during the Panic of 1857. Harper’s Weekly vol. I, p.692. Library of Congress, gemeinfrei.

Die psychische Komponente spielt eine große Rolle bei Schmerzerkrankungen. Es geht weniger darum, ob eine positive Einstellung hilft, die Erkrankung im Zaum zu halten (das tut sie in der Regel nicht), als wie man mit neuen Schmerzherden umgeht. Denn so ein Schmerzschub in einer Körperregion, die sich bisher unauffällig verhalten hat, kann einem den ganzen Tag versauen. Das wirkt auf Dritte oft übertrieben.

Dabei sind solche Bedenken verständlich: Schmerz, einfach so und ohne bekannte Ursache? Das finden nicht einmal die herbsten Masochisten toll. Hinter vielen rheumatischen Leiden stehen Ursachen mit mehr oder weniger dramatischen Bezeichnungen, von «Autoimmunerkrankung» bis «Krebs». Und nicht zuletzt wissen Betroffene, wie schlimm Schmerz werden kann. Logisch geht das Kopfkino los, wenn völlig überraschend ein Kniegelenk schmerzt, obwohl man damit noch nie Probleme hatte.

Wie damit umgehen? Gelassenheit liegt nicht jedem, aber dennoch sollte Douglas Adams bekanntes Bonmot gelten: Don’t Panic. Gibt es vielleicht doch eine klare Ursache? Gestern den Dachstuhl geräumt und dabei auf allen Vieren herumgerutscht? Oder am Abend zuvor mit dem Ellenbogen an den Türrahmen gedonnert? Sport getrieben – könnte also Muskelkater sein? Zu viel GEKNUDELPUPST? – also eventuell bloss eine Zerrung eingefangen? Ursachenfindung sollte Priorität haben, bevor man sich verrückt macht.

Sollte sich der Schmerz aber weder erklären lassen noch in einem angemessenen Zeitrahmen verflüchtigen ist klar: Ab zum Onkel oder zur Tante Doktor. Rheumatische Erkrankungen beschränken sich zwar auch mal auf einzelne Gelenke, aber falls sie sich nicht mit so wenig zufrieden geben – was bei chronischem Verlauf durchaus als Norm gelten kann – muss die Schmerztherapie angepasst werden. Oder die medizinische Ursachenforschung weitergetrieben werden. Und das erledigt man lieber früher als später, wie bereits anderenorts beschrieben …

Schluckspecht.

Medikamente einzunehmen ist einfach: Mund auf, Medis rein, schlucken. Aber man kann dabei erstaunlich viel falsch machen. Oder zumindest nicht optimal vorgehen. Das gilt oft dann, wenn Aua-Leute vermeintlich selbstverantwortlich handelt.

Svenskt dryckeslag med kåsor. Efter Olaus Magnus Historia de gentibus septentrionalibus. 1555. Gemeinfrei.

Svenskt dryckeslag med kåsor. Efter Olaus Magnus Historia de gentibus septentrionalibus. 1555. Gemeinfrei.

Die wichtigste Regel zuerst: Die Ärzte haben immer recht. Jedenfalls fast immer; denn wenn man als Schmerzensmensch nicht sagt, was man neben den verschriebenen Medikamenten noch so einnimmt können Mediziner_innen nicht vernünftig arbeiten und kommen schon mal auf komische Ideen.

Beispiel: Wenn man, wie (früher) von manchen Gesundheitsorganisationen vorgeschlagen, täglich ein Aspirin zur Prävention von Herz/Kreislauf-Erkrankungen einnimmt mag einem das nicht weiters der Rede wert sein – stand ja mal im «Blick» oder in einem Bulletin der WHO, das passt schon. Aber Acetylsalicylsäure ist zum Beispiel kontraindiziert bei Gicht, kann Schübe sogar auslösen. Wissen die Behandelnden nichts von eurem Aspirinkonsum fantasieren sie schnell mal etwaige Nebenerkrankungen daher, die euch ständig mit dicken Gelenken in die Praxis schicken. Ergebnis: Zusätzliche, oft unangenehme Untersuchungen die auch dick ins Geld gehen können. Muss nicht sein.

Im idealen Märchenland sind Ärzt_innen diejenigen, die einen Überblick darüber haben, welche Medikamentenkombination man so zu sich nehmen sollte. «Ideales Märchenland» deshalb, weil Patient_innen immer wieder vergessen, weitere rezeptfreie Präparate zu nennen, die sich in Griffnähe des Morgenkaffees befinden. Sei es wegen eines Versäumnisses («Oh, das hatte ich ganz vergessen!») oder weil es ihnen peinlich ist («Nun ja, ja, die kleinen blauen Pillen, hust, nun ja, ja, manchmal, aber nur ganz ganz selten, meine Frau ist ja auch nicht mehr die Jüngste!»)

Hier muss absolute Offenheit herrschen! Weniger wegen etwaigen Wechselwirkungen, sondern weil man sich diagnostisch gegebenenfalls mehr zumutet, als nötig wäre. Es geht hier also auch um Selbstschutz.

Weiteres Beispiel abseits von Birkenrindenextrakten und rekreativen Steifmachern: Man bekommt zwar Protonenpumpenhemmer gegen Sodbrennen frei in der Apotheke, aber wer sie nur dann nimmt, wenn die Magensäure bereits zwickt, hat das Prinzip nicht verstanden. Die Mittel sollen quasi-präventiv wirken, nicht erst dann, wenn einem der Mageninhalt bis zur Halskrause steht. Manche Ärzte verschreiben Pantoprazol oder Omeprazol gleich als «Magenschutz» – nicht verkehrt, auch, weil er oder sie dann weiß, dass man das Zeugs einnimmt. Und entsprechend nachfragen kann, wenn Patient_innen dennoch über häufiges Sodbrennen klagen. Wieder: Bevor Magenspiegelung oder gar Biopsien automatisch auf dem Diagnosespiegel aufploppen.

Dann ist da die Sache mit dem Einnahmezeitpunkt der Medikamente. Apotheker_innen versteifen sich da (zu) oft auf die maximale Tagesdosis und sagen dann meist noch lapidar: «Nicht auf leeren Magen.» Das trifft auf die meisten Schmerzmittel zu, aber nicht auf die Medikamente, die gegen etwaige Nebenwirkungen der Schmerzmittel wie eben starkes Sodbrennen oder erhöhten Blutdruck vorgehen sollen. Denn die brauchen Vorlaufzeit, gehören also meistens vor den morgendlichen Kaffee, egal, ob der koffeinfrei ist oder nicht.

Dieser Artikel ist ein Plädoyer: Redet mit euren Ärztinnen! Seid offen! Wenn ihr jeden Abend eine Flasche Rotwein kippt mag es euch peinlich sein, das dem netten Herrn Doktor gegenüber zuzugeben. Aber wenn der dann wegen eurer Leiden ein Blutbild macht und sich wundert, was die Leberwerte so treiben, wird’s schnell unangenehmer als wenn er hätte einschätzen können, wie denn der Alkohol in die Laborergebnisse reinspielt.

Das Arztgeheimnis gibt’s nicht ohne Grund und ist nur in zweiter Linie zum Schutz des Medizinpersonals gedacht: Eigentlich geht’s um euch. Also nutzt es.

Knüppel zwischen die Beine, oder: Exklusion durch Klischees in den Medien.

Honoré Daumier: Der eingebildete Kranke. 19. Jhd. Gemeinfrei.

Honoré Daumier: Der eingebildete Kranke. 19. Jhd. Gemeinfrei.

Menschen mit Behinderungen stehen in der Öffentlichkeit schnell unter Verdacht: Sind sie wirklich geschädigt, oder sind sie nur faul? Schwierig haben es Personen, denen man die Behinderung nicht ansieht. Auch, weil Journalisten kaum passende Symbolfotos zeigen mögen.

Um eines Vorweg zu nehmen: Ich unterstelle dem Großteil der Medienlandschaft nicht, Propaganda zu betreiben. Was ich vielen Nachrichtengefäßen aber gerne unterstelle ist eine gewisse Bequemlichkeit und damit ein Festhalten an Klischees, die sich fürs Bewirtschaften der Aufmerksamkeit und damit das Festigen der öffentlichen Meinung bewährt haben.

Als leider typisches Beispiel sei dieser Artikel im „Politblog“ genannt, erschienen unter anderem in der Online-Ausgabe des „Tagesanzeigers“. Thema: Kürzungen von Renten der Schweizer Invalidenversicherung (IV) und Integration in den Arbeitsmarkt. Symbolbild: Eine lächelnde, nähende Frau mit Trisomie–21. Bildunterschrift: „Arbeiten muss für behinderte Personen finanziell attraktiv sein.“ Studiert man aber die offiziellen Zahlen des Bundes, werden schnell drei Dinge klar:

  1. Die Wahrscheinlichkeit, in der Schweiz eine IV-Leistung beziehen zu müssen, steigt mit dem Alter. Dramatisch ist der Anstieg in der Altersgruppe über 55 Jahre. Menschen mit Down-Syndrom haben eine durchschnittliche Lebenserwartung von nur rund 60 Jahren. Die durchschnittliche Lebenserwartung, total, liegt in der Schweiz zur Zeit bei ca. 88 Jahren.
  2. Für die Gruppe der über–40jährigen, und damit die meisten Betroffenen, sieht das Gesetz eine Eingliederung in die Arbeitswelt nur dann vor, wenn es therapeutisch wirken könnte. Eine Eingliederung in den primären Arbeitsmarkt gilt besonders im mittleren und höheren Alter als wenig erfolgsversprechend.
  3. Die mit Abstand häufigste Ursache, um Leistungen der Invalidenversicherung zu beantragen und zu erhalten, ist die Triade aus psychischen Krankheiten, Erkrankungen des Nervensystems sowie, und deshalb bringe ich das in diesem Blog – Erkrankungen von „Knochen- und Bewegungsorganen“. Letztere treten mit steigendem Alter immer wahrscheinlicher auf, sorgen damit am zweithäufigsten für einen IV-Antrag, führen aber auch am seltensten zu einer Vollrente.

(Quelle: Statistiken zur Sozialen Sicherheit: IV-Statistik 2011.)

Weshalb also genau dieses Symbolbild im Beispielartikel? Weshalb veröffentlicht man in praktisch allen Bildbeiträgen zu Invalidenthemen solche Menschen, denen man die Behinderung auf den ersten Blick ansieht? (Und dabei meistens etwas treudoof lächeln oder düster im Rollstuhl sitzen?) Der kleine Zyniker in mir hat eine einfache Erklärung:

Damit lässt sich die Story besser verkaufen. Und damit machen sich Medienschaffende das Leben zu einfach und sorgen für einigen Stress im Alltag. Die Leser lernen durch die dauernde Wiederholung: SO sehen „richtige“ Behinderte aus, SO benehmen sie sich. Man hat ja die Bilder und Filme gesehen, sogar in Unterhaltungs-Dokumentationen des Schweizer Fernsehens. Die sabbern oder sitzen im Rollstuhl oder können nicht ordentlich sprechen oder haben keine Arme oder sind halt „Downies“ … Hauptsache, es ist etwas Offensichtliches.

Also denken sich im Umkehrschluss zu viele Medienleute, dass nur solche Bilder vom Konsumenten verstanden werden. Die Aufgabe eines Symbolbildes ist es ja, dass auf einen Blick klar wird, worum es in einem Film- oder Textbeitrag geht. Hacker – schattenhafte Gestalt vor einem Computer. Kriminalitätsstatistik – Handschellen um gebräunte Handgelenke. Juveniler Alkoholismus – Partyfoto mit Schnapsflasche. Invalidenthema – Rollstuhl oder Kuschel-Behinderter.

Das Problem daran ist, dass ein immer wiederkehrender Einsatz dieser Klischees dazu führt, dass die tatsächlich Betroffenen nicht mehr als solche wahrgenommen werden, zumindest Zweifel an der nicht-sichtbaren Krankheit oder Behinderung aufkommen. Das heißt auch, dass die Medien (unbeabsichtigt) daran mitarbeiten, dass diese Betroffenen nicht weiters ernst genommen und dadurch „exkludiert“ werden können:

„Reiß Dich mal zusammen.“

„Die Krücke ist ja affig. Bist Du unter die Hipster gegangen?“

„Wenn Du Stimmen hörst, dann schalt das Radio ab.“

„DU willst Autist sein? Kannst Du etwa so toll wie Rainman kopfrechnen? Nein? Sag ich doch.“

Bringt man immer dieselben Symbolbilder, immer dieselben Vorzeige-Behinderungen, geht der größte Teil der Betroffenen unter. Wie zum Beispiel die jüngeren Rheuma-Kranken – denn zu sehen bekommt man in Zeitung und TV fast nur Rentner mit Rollator, nicht die 40jährige Powerfrau mit Gehstock und Schmerzmitteln. Dr. House mochte zwar ein brillanter Arzt gewesen sein, aber das Drehbuch gab ihm auch eine Vicodin-Abhängigkeit und beißenden Zynismus mit. Wäre sonst ja langweilg, wenn er trotz Behinderung zu normal gewesen wäre.

Die Welt ist komplex, manchmal auch kompliziert. Oft muss ein Sachverhalt vereinfacht dargestellt werden, um Verständnis zu ermöglichen. Wenn aber Nachrichtensendungen und Zeitungsartikel mit ihren Bildbeiträgen ständig Klischees bedienen? Dann wird die Realität als solche simplifiziert. Und nach einer Weile glauben viele Menschen nur noch dieser vereinfachten Wirklichkeit, die Symbolbilder werden zum Faktum. Diejenigen, die nicht den so erzeugten „Fakten“ entsprechen, bleiben auf der Strecke. Und werden dann schon mal zu „Scheininvaliden und Sozialschmarotzern“ hochstilisiert. Was ja auch gut ins propagierte Weltbild mancher Presse-Erzeugnisse passt.

So kann Inklusion in unserer medialen Welt nicht gelingen. Künstliche Trennlinien zwischen „Inklusionswürdigen“ und „Simulanten“ aufgrund von leicht sichtbaren Gebrechen oder deren Fehlen widersprechen sowohl der Vernunft als auch der Realität. Und zu oft dem guten Geschmack. Wenn Redaktoren Artikel mit Hilfe dreifacher Chromosomen oder abgetrennter Gliedmaßen illustrieren, dann wollen sie vielleicht tatsächlich nur „deutlich“ oder „symbolisch“ sein. Aber oft werden die Medien dadurch populistisch und werfen so, unterm Strich, den sinnvollen Bestrebungen nach mehr Inklusion Knüppel zwischen die Beine.

Fast hätte ich „Krüppel“ geschrieben. Entschuldigung.

Dieser Beitrag erscheint im Rahmen der #EinfachSein-Thementage über Behinderung, Gesellschaft und Medien. Das Programm der Thementage findet sich hier bei „Quergedachtes“.